alpha-retro: Die Unentbehrlichen (1969) Von der Bedeutung des Autos für den deutschen Menschen und die deutsche Wirtschaft
Freitag, 05.02.2021
20:50 bis 21:30 Uhr
Davor „Straßen in Deutschland (1968)“ und danach „18 fertig los (1973)“ und mehrere „Der 7.Sinn“ (1968-1973)
ARD-alpha
BundesRepublikDeutschland (historisch) 1969
Wilhelm Bittdorf konstatiert: 1969 gibt es in der Bundesrepublik zwölf Millionen Autos. Fast alle diese Autos werden geliebt. Viele von ihnen werden sonntagmorgens gewaschen, die meistens sogar mit Hingabe. Wilhelm Bittdorf unternahm damals mit seinem Film den Versuch, eine kritische Bestandsaufnahme in Sachen „das Auto und die Deutschen“ zu leisten. Gekauft wurden auch damals die meisten Autos auf Kredit und nach gut zehn Jahren landeten sie i.d.R. auf dem Schrott, denn länger hielten die Autos in jenen Jahren nicht.
Die Kamera paradiert auf dem Schrottplatz an ausrangierten VW-Käfern mit kleinen Heckfenstern vorbei, an Prinzen von NSU, an einem Weltkugeltaunus von Ford, einem Ponton-Mercedes, an einem Millecento von Fiat-Neckar, einer Meisterklasse von DKW usw. usf. Schon damals war die Automobilindustrie der größte Industriezweig in Deutschlands, pro Jahr wurden über drei Millionen Fahrzeuge produziert. Eine Schlüsselindustrie. Nichts konnte in Deutschland die Automobilindustrie als Motor der Wirtschaft ersetzen, denn jeder fünfte Arbeitsplatz hing direkt oder indirekt mit der Automobilwirtschaft zusammen.
Der Film sagt, der Mensch hätte einen geradezu triebhaften Drang, ein Auto besitzen zu wollen und die Autobesitzer hätten den Drang, immer ein neues, ein schnelleres, stärkeres und chiceres Auto haben zu wollen. Auf einem Verkehrsübungsplatz in Augsburg üben Frauen unter der Anleitung ihrer Männer das Einparken und das noch viel schwierigere Anfahren an einer Steigung. Verzweiflung ist zu spüren. Die Kupplung raucht, der Anlasser wird müde. Nur jeder fünfte hatte damals in Deutschland ein Auto. Die Schreckensvision für Bittdorf war damals die Prognose, dass es in der BRD 1985 25 Millionen Autos geben wird. – 2020 waren es 58 Millionen. – Und dann konfrontiert er die Reklame für den Autokauf mit der Realität auf den Straßen. Die Werbung sagt, Autofahren solle wieder Spaß machen, der Alltag sagt: „Nichts geht mehr! Stau!“ So weit war man also bereits 1969.
Verkauft wurden die Autos in der Werbung aber vor allem mit Sexappeal. Tolle Autos und schöne Frauen gehörten dort zwingend zusammen. Im Kopf der Autofahrer übersetzte sich das dann folgendermaßen: „Unter Einskommasechs-Liter Hubraum kommt man an ein besseres Mädchen gar nicht mehr ran!“ Die Aufwendungen für den Straßenbau betrugen im Jahr 1969 rund zwölf Milliarden Mark. Das Verkaufsgespräch bei einem Ferrari-Händler in Düsseldorf am Ende der Sendung ist aus heutiger Sicht unfreiwillig komisch, der Dialog absurd. Am Boden ist eine kleine Barriere aufgebaut, damit der Betrachter der Pretiose nicht zu nahe kommt.
Das Gespräch dreht sich um Beschleunigungswerte – „der ist in 5,6 Sekunden auf 100“ – „meiner erst in 6,2“ –, Nockenwellenanzahl und PS-Größen. Schlusssatz von Verkäufer Becker: „Dieses Auto muss man fahren. Das ist in der Technik eine Perfektion… Wenn Sie die zwölf Zylinder hören und das Gaspedal voll durchtreten!“ Das Auto war und ist teilweise bis heute Statussymbol und Fetisch. Deswegen lässt Bittdorf seinen Film auch mit dem Satz enden: „Und außerdem gibt es noch einen Grund, warum das Auto unentbehrlich ist: Worüber sollten die deutschen Männer denn sonst reden?“ Immerhin dieses hat sich geändert. Oder?